Pracht und Prunk in Prag
Kunst und Design sind eng verbunden mit Tschechiens Hauptstadt.
Ich sitze im Nationaltheater in Prag, in der Premierenaufführung der Oper ‚Schwanda, der Dudelsackspieler‘ des tschechischen Komponisten Jaromír Weinberger. Neben Smetana, Dvořák, Janáček und Martinů gehörte Weinberger zu den wenigen Tschechen, deren Musik weltweit Beachtung fand. Erstaufgeführt in Prag 1927, wurde das Stück kurz darauf in 17 Sprachen übersetzt. Es reiste um die ganze Welt, die deutsche Erstaufführung fand am 16. Dezember 1928 in Breslau statt. Ein Riesenerfolg und frenetisch beklatscht auf allen namhaften Bühnen, bevor es 95 Jahre in völlige Vergessenheit geriet. Anfang Oktober 2022 kehrte ‚Schwanda‘ als Teil des Zyklus Musica non grata, eines internationalen Musik- und Kulturprojekts, initiiert und organisiert vom Nationaltheater in Prag und finanziell unterstützt von der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland zurück an den Ort des Ursprungs. Prunk und Pomp auf der Bühne, Grazilität der Darsteller, gewaltige Stimmen, ein gefühlvolles und doch mitreißendes Orchester, im mondänen Nationaltheater – was für ein Aufschlag bei meiner Ankunft in Prag.
Erbaut wurde das an der Moldau liegende Gebäude im Neorenaissance-Stil in den Jahren 1868 bis 1881. Es zählt zu den wichtigsten Nationalsymbolen der Tschechischen Republik und der früheren Tschechoslowakei. Unter diesem Dach sollten verschiedene Kunstformen, der Stolz der heimischen Kultur und nationale Identität einen passenden Rahmen finden. Finanziert wurde das Gebäude durch die Hilfe der Bevölkerung mit Spenden, die nahezu komplett aus dem böhmischen Raum der damals noch herrschenden Monarchie Österreich-Ungarn stammten. Die ersten Steine für den Bau wurden aus verschiedenen Regionen der böhmischen Gebirgswelt angeliefert. Dieser Stolz ist bis heute zu spüren, weshalb das Haus bis heute eng mit dem Volksgefühl der Tschechen verbunden ist.
Nicht weniger glanzvoll präsentiert sich das Opernhaus der Metropole. Die Bühne wurde als ‚Neues deutsches Theater‘ gegründet und im Jahre 1888 mit der Wagner-Oper ‚Die Meistersänger von Nürnberg‘ eröffnet. Nach langer Renovierung wurde es im Januar 2020 wieder eröffnet und darf sich heute als führende europäische Opernbühne in einem bezaubernden Neurenaissance-Gebäude mit reich verziertem Interieur bezeichnen.
Bereits im Heiligen Römischen Reich war Prag eine bedeutende königliche und kaiserliche Residenzstadt und zählte im 14. Jahrhundert zum politisch-kulturellen Zentrum Europas. Das historische Zentrum der Hauptstadt Böhmens ist seit 1992 Welterbestätte der UNESCO. Milena Vostalowá, unser Tourguide erklärt: „Unsere Stadt nennen wir auch die ‚Goldene Stadt‘ oder ‚Stadt der hundert Türme‘. Gotik und Barock prägen unseren historischen Kern, die mondänen Jugendstilbauten in bunten Farben befinden sich in außerordentlich gutem Zustand.“ Während des 2. Weltkrieges unterlag Prag einem Protektorat und wurde kaum zerstört. Am Wenzelsplatz oder ‚Václavák‘ angekommen, verdeutlicht Milena: „Kaiser Karl IV. (1316 -1378) wollte Prag zur Hauptstadt des Reiches ausbauen und legte mit der Gründung der Neustadt den Grundstein. Damals noch Roßmarkt genannt, wurde er zum Hauptplatz der Stadt und erinnert an Schicksalstage: Im August 1968 fand hier die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings statt. 1969 protestierte der Student Jan Palach gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts und verbrannte sich. Und 1989 sprach Václav Havel (1936 – 2011) vom Balkon des Hauses Nr. 56 während der Samtenen Revolution zu Tausenden von Demonstrationen. Das bronzene Reiterdenkmal für den heiligen Wenzel, Schutzpatron der Tschechen, schuf Myslbeck 1912. Der Platz selbst wirkt eher wie ein Boulevard, nach dem großen Vorbild der Champs Elysee in Paris.
Wir schlendern durch die Stadt und genießen die prächtigen Bauten, die sich mit kreativem Schick und multikulturellem Flair mischen. Die Passagen in Prag, von denen es reichlich gibt, entstanden überwiegend am Ende des 19. Jahrhunderts und geben der Metropole damit ein unverwechselbares Innenleben. Wir erreichen die Passage Lucerna, die heute zu den Architekturdenkmälern der frühen Moderne zählt.
Milena berichtet weiter: „Die Anwohner nannten Lucerna einen Bazar aufgrund der von der Kunst des Islam inspirierten Ausstattung.“ Der Architekt war übrigens Václav Havel, der Großvater des späteren tschechischen Staatspräsidenten. Im hinteren Teil finden wir unter der Glaskuppel das kopfüber hängende Pferd mit den auf dem Bauch sitzenden St. Wenzel, eine Persiflage des Künstlers David Cernýs auf das Reiterdenkmal auf dem Wenzelsplatz.
Der Kafka Kopf ist ein weiteres Objekt dieses Bildhauers, entstanden in Anlehnung auf das Werk Metamorphose von Kafka. Bewegliche 42 Edelstahlschichten der elf Meter hohen Skulptur stellen das Gesicht des tschechischen Schriftstellers dar, die sich unabhängig voneinander um eine zentrale Achse drehen. Die leichteste Platte wiegt 190 kg, die schwerste 520 kg. Für die Beweglichkeit sorgen 52 Motoren.
Prag ist eine uralte Schönheit mit jugendlichem Charme und ein Schatzhaus der Kunst und Architektur. Erst im Februar 2022 eröffnet, zog die neue Kunsthalle Praha bis August bereits 70.000 Besucher an wie ein Magnet. Gezeigt werden Einzelausstellungen bedeutender lebender Künstler. Gerade startete die Ausstellung des Berliner Künstlers Gregor Hildebrandt, die noch bis Mitte Februar 2023 zu sehen ist. Hildebrandt arbeitet seit dem Ende der 90er Jahre hauptsächlich mit analogen Tonträgern, schafft Skulpturen, Installationen und Gemälde mit Materialien wie formgepresstem Vinyl, Tonbändern auf Leinwand oder Kassettenhüllen.
Und wie aus dem Nichts zeigt sich Prag mit einer Architektur, die konventionelle Baustile unbekümmert ignoriert: Eine Tänzerin namens Ginger Rogers schmiegt sich an den männlichen Tanzpartner, Fred Astair. Von der Tanzkunst des gefeierten Filmpaares ließen sich die Architekten Vlado Milunić und Frank O. Gehry inspirieren, es entstand 1996 das Tanzende Haus. Sie ist der gläserne Turm, er der aus Stein. Damit wurde eine Lücke zum Nachbarhaus aus 1900 auf mutige Weise geschlossen. Im Obergeschoß befindet sich ein Restaurant mit Terrasse, von hier aus genieße ich einen wunderbaren Blick die Moldau. Mit ihren insgesamt 430 km durchfließt sie die Stadt auf einer Länge von etwa 31 km, ihre größte Breite ist 330 m. Unweigerlich zieht Smetanas Komposition durch meinen Kopf. Oben auf dem Hügel zeigt sich stilvoll anmutend die Prager Burg.
Die Pariser Straße, eigentlich als Verlängerung des Wenzelsplatz geplant, ist eine der Prachtmeilen der Stadt. Einst das jüdische Ghetto, waren im 13. Jahrhundert alle Prager Juden per Erlass gezwungen, hier zu leben. Viele Jahrhunderte später erhielten sie die Rechte, wegzuziehen. Wer konnte, tat es, denn das Viertel, damals Josephstadt genannt, verkam und zerfiel. Nach dem Abriss des Viertels – nur wenige Gebäude und Synagogen blieben erhalten – erfolgte nach dem Vorbild der Stadt Paris der Wiederaufbau mit heute herrlichen Jugendstil- und Neubarockhäusern. Wer nach Luxusprodukten sucht, ist hier genau richtig.
Tschechisches Design steht weltweit für hohen Standard sowie Originalität. Für mich Grund genug, die jährlich im Herbst stattfindende Messe Designblok, eine der größten und prestigeträchtigsten Veranstaltungen in Mitteleuropa, aufzusuchen. Seit 1999 findet sie in immer unterschiedlichen und sehr ansprechenden Locations in Prag statt. Künstler, Schöpfer, Kreative, Gestalter, Designstudios, Schulen bzw. Akademien sowie visionäre Projekte bekannter Weltmarken finden hier ihre Bühne. In 2022 fand der Eröffnungsabend im Hauptgebäude des Kunstgewerbemuseums mit seinem wunderbaren Interieur statt. Die Auswahlschau widmet sich dem Design in all seinen Gestaltungen und Ausführungen. Modeschauen, Schmuck-, Kleider-, Möbel-, Wohnaccessoires-, und Leuchtkörperausstellungen, aber auch Präsentationen der besten tschechischen Designer vereinen sich hier.
Im Manifesto Anděl, das täglich zwischen 11 Uhr und 22 Uhr geöffnet hat, schließe ich meinen Städtetrip ab und besuche das im Jahr 2021 eröffnete Areal mit dem innovativen Gastronomiekonzept. Unter 14 verschiedenen Restaurants, einer Bier- und einer Cocktailbar, größtenteils überdacht und mit Wärmestrahlern ausgestattet, kann ich im gastronomischen Paradies in Prag 5 zwischen diversen Gerichten wählen und an einem der unzähligen Tische oder Lounge-Inseln Platz nehmen. Die Location serviert plastikfrei und schafft mit Grün bedeckten Wänden und einer Wasserfläche angenehme Wohlfühlatmosphäre. An diesem Abend ist Lifemusik, eine Lady bringt musikalische Stimmung, einige Gäste tanzen spontan und ausgelassen dazu. Passt, mein Eindruck. Der Betreiber ist begeistert, noch in diesem Jahr soll das zweite Manifesto in Berlin eröffnen.
von Susanne Reuter, Oktober 2022