Insel Amrum: Leben mit Sand, Wind und Flut
Es ist, als würde man eine andere Welt betreten. Amrum war früher einmal dänisch und eine Seefahrerinsel, also ausschließlich per Schiff erreichbar und nicht mit einem Damm mit dem Festland verbunden. Die An- und Abfahrtszeiten der Reedereien können bei Flut meist gut eingehalten werden, bei Ebbe muss man mit Verspätungen rechnen. Endlich am Kniepsand angekommen, kann ich diesen unerschöpflichen Freiraum visualisieren, in etwa zehn Meter Länge und fast eineinhalb Meter Breite nichts als Sand, Dünen und Meer. Möwen kreischen, die Wellen rauschen und farbenfrohe Strandkörbe stellen die perfekte Kulisse. Hier kann man loslassen.
Mit dem Fahrrad gegen den Wind.
Ich leihe mir ein Fahrrad aus, wegen dem Wind bevorzuge ich ein e-Bike. Auf diese Weise komme ich hervorragend voran und mache mich auf nach Nebel an der Wattseite, eine der drei Inselgemeinden. Im Ortskern von Nebel stehen die meisten Friesenhäuser mit Reetdach aus dem 18. und 19. Jahrhundert und ich finde kleine Gassen, die nicht asphaltiert sind. In dem Friesendörfchen befindet sich das Öömrang Hüs,
ein altes, reetgedecktes Kapitänshaus. Es beherbergt das Heimatmuseum, das viel über die friesische Kultur erzählt. Das Inselleben war über Jahrhunderte der Seefahrt zugewandt. Um 1500 beteiligten sich Amrumer mit Holländern und Engländern an der Heringsfischerei um Helgoland. Irgendwann blieben die gewaltigen Heringsschwärme aus. Danach entdeckten die Holländer riesige Walvorkommen im Eismeer. Der französische König verbot im Jahr 1633 seinen baskischen Untertanen jedoch, auf holländischen Walfängerschiffen anzuheuern. Da erinnerten sich die Holländer an die Seemänner auf den nordfriesischen Inseln, suchten und fanden sie unter anderem auf Amrum. Und so begann das ‚goldene Zeitalter‘ der Amrumer mit dem Walfang. Als es durch die napoleonischen Kriegswirren mit der Seefahrerzeit zu Ende ging, brach eine unglaubliche Armut aus, die Amrumer wurden zu Strandräubern. Heute leben die Insulaner vom Tourismus.
Ik wanske di ian gud tidj (Ich wünsche Dir eine gute Zeit)
‚Öömrang‘ ist übrigens das Amrumer Friesisch und als Dialekt eine anerkannte Minderheitensprache. Sie wird auf Amrum von etwa der Hälfte der Einheimischen im Alltag gesprochen. Auf Amrum spricht man Öömrang, auf der Nachbarinsel Föhr Fering und auf Sylt Sölring. Weitere Dialekte auf dem nordfriesischen Festland machen es nicht leichter. Am ehesten verstehen sich noch die Föhrer und Amrumer untereinander. Mein Spaziergang durch Nebel führt mich zur St. Clemens-Kirche mit dem erzählenden Friedhof. Die historischen, aufwändig restaurierten Grabsteine stehen auf einem angrenzenden Areal, die Inschriften erzählen vom Leben der Verstorbenen, meist als Seefahrer. Einzelne Geschichten kann der Besucher noch intensiver nachlesen, indem er den nebenstehenden QR-Code scannt. So auch die unglaubliche Geschichte von Hark Olufs, der von osmanischen Seeräubern gekapert, nach Algier verschleppt und als Sklave verkauft wurde. Dann gelang ihm der Aufstieg zum Schatzmeister des Bey von Constantine sowie Führer einer ganzen Kavallerie, mit der er große Schlachten siegreich bestritt. Nach fast zwölf Jahren wurde er reich belohnt und mit großen Ehren aus der Gefangenschaft entlassen, und kehrte als General auf die Insel zurück.
Der Amrumer Leuchtturm wurde im Jahre 1875 eröffnet und ist der höchste begehbare Turm an der Nordseeküste. Er erstreckt sich auf einer Höhe von 41.8 Meter. Vom Fuß der Düne bis zum Balkon führen 297 Stufen, 172 davon im Turm. In den Sommermonaten kann er vormittags bestiegen werden. Von der Aussichtsplattform hat man einen grandiosen Blick auf Amrum, die Nachbarinseln Sylt und Föhr sowie das Weltnaturerbe Wattenmeer.
Mir bleibt noch etwas Zeit, ich fahre in den Norden zum Vogelschutzgebiet. Nach Norddorf führt der Weg Richtung Odde. Irgendwann ist Ende, das Rad kann ich dort abstellen und zu Fuß weitergehen. Der nördlichste Inselteil ist etwa zwei Kilometer lang, bis zu 200 Meter breit, mittig befinden sich Dünen, die nur an ausgewiesenen wenigen Stellen betreten werden dürfen. Die Amrumer Odde ist Brutplatz zahlreicher Vogelarten, u.a. Heringsmöwen, Silbermöwen, Eiderenten und Mittelsäger. Feinster, weißer Sand erinnert an die Karibik. Seit 1983 betreut der Öömrang Ferian (Amrumer Verein) das Naturschutzgebiet "Amrumer Dünen" und das "Landschaftsschutzgebiet Amrum", zudem seit 2001 zusammen mit dem Verein Jordsand und der Schutzstation Wattenmeer einen Teil des Nationalparks Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer. Sie alle sorgen dafür, dass dieses Paradies für Mensch, Tier und Natur im ausgewogenen Verhältnis existieren kann.
von Susanne Reuter, Mai 2022